Marketing und Vertrieb

Wen vertreibt der Vertrieb?

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und wieso der Chief Customer Relationship Manager den Vertriebsvorstand ersetzen sollte...

Begrifflichkeiten sind für unser Verständnis ("begreifen") zentral. Alltäglich verwendete Begriffe sind nur scheinbar bedeutungslos und austauschbar. Was meinte also die Begrifflichkeit “Vertrieb“, die den wichtigsten organisatorischen Berührungspunkt zum Kunden darstellt?

Es klingt zuerst das Wort "treiben" an, welches einen aktiven „ver-treiben" und einen passiven “treiben lassen“ Charakter haben kann. Die passive Form hat umgangssprachlich eher eine positive - leichte Bedeutung. "Von Wasser oder dem Wind dahin treiben lassen“. Hingegen wird durch die Silbe „ver“ eine aktive und eine negativere Assoziation geweck (negativ im Sinne von „weg haben wollen“). "Wölfe, Feinde, schwere Gedanken und eventuell auch die Zeit werden vertrieben. Mit der Silbe "voran" bleibt das treiben aktiv und erhält einen positiven Charakter (positiv im Sinne von „eine Sache entwickelt sich, ich bleib ihr aber verbunden“). Dinge werden voran-getrieben.

Der Vertriebsvorstand treibt die Vertriebsorganisation und diese vertreibt die Produkte an den Kunden. Es wird also aktiv etwas aus dem Unternehmen herausgebracht. Gibt es auch einen ökonomisch sinnvollen Raum für ein "voran-treiben" des Kunden und der Kundenbeziehung und wie soll dieser aussehen? Wie könnte die Agenda eines Chief Customer Relationship Managers aussehen?

1. Langfristige Preissetzung

Von Wechselkosten[1] abgesehen, wird jeder Kunde versuchen, sich aus nicht fairen Austauschbeziehungen zu befreien. Daher ist Angemessenheit in der Preissetzung der erste und zentralste Baustein jeder langfristigen Kundenbeziehung. In Kontinentaleuropa dominierte lange Zeit das sogenannte „bank based system“, das besonderen Wert auf langfristige Kundenbeziehungen legte. Das „market based system“ aus den anglo-amerikanischen Ländern ist kurzfristiger orientiert und legt den Wert eher auf die einzelne Transaktion. Das „market based system" folkussiert gewissermaßen mehr auf das "Jetzt als die "Zukunft“. Nietzsche dazu „… Es ist die Zukunft, die unserm Heute die Regel giebt“[2]. Mein Verhalten dem Kunden gegenüber wird dadurch definiert, in welcher Relation ich mich zukünftig zu ihm sehe. Dieser „jetzt“ fokussierte Ansatz dominiert(e) besonders im Investmentbanking. Jede Vertragspartei maximiert den Wert jeder einzelnen Transaktion und nicht den Wert der Kundenbeziehung. Das führte zu einer Entpersonalisierung und Beschleunigung des Finanzwesens. Adam Smith [3] betonte übrigens bereits im 18 Jahrhundert, dass im Finanzwesen nachhaltige und langfristige Beziehungen entscheiden sind. “The banking companies of Scotland, accordingly, were for a long time very careful to require frequent and regular repayments from all their customers, and did not care to deal with any person, whatever might be his fortune or credit, who did not make, what they called frequent and regular operations with them…“

2. Verstehen & Ernstnehmen der Kundenbedürfnisse

Hier würde schon die Erfüllung des elementarsten Bedürfnisses nach einer vertrauenswürdig korrekten Beratung einen großen Fortschritt darstellen. Aber es gibt natürlich andere einfache Kundenbedürfnisse wie persönliche Betreuung, schnelle fehlerfreie Prozesse und auch zunehmend die ethische Geldveranlagung. Die Beiträge der Forschung zur Qualität und zu Kundenwünschen in der Finanzdienstleistungsindustrie sind sehr umfangreich. Siehe zum Beispiel Johnston [4] und die darin angeführte Literatur.

3. Erforschung und Schaffung neuer Bedürfnisse

Diese ist “die überragende Tatsache in der Wirtschaftsgeschichte der kapitalistischen Gesellschaft” (Schumpeter[5]). Ich meine hier nicht, dass Wecken niedriger Bedürfnisse oder die Entwicklung der hundertsten Geschmacksrichtung, sondern jener Dinge, die ich als nützlich oder ästhetisch empfinde, aber ohne die konkrete Erfindung mir mein Bedarf nur sehr schwach oder nicht bewusst gewesen wäre (z.B. „Smartphones, elektronische & beheizte Rückspiegel). Nur wenige Finanzinstitute kümmern sich um Innovation im “Schumpeterischen Sinn“ im Bedürfnisraum der Kunden. Innovation fokussiert sich auf die Informationstechnologie, Marketing, effiziente Prozesse und aus der Krise resultierend auf das eigene Risikomanagement. Das ist natürlich ein essentieller Bestandteil der Innovation (Onlinebanking!). Die meiste Innovation und die größten Investitionen erfolgen im Investmentbanking, in dem Legionen von schlauen Menschen überlegene Handelsstrategien entwickeln.
Spannenderweise meinen viele Freunde und Bekannten aus der Finanzbranche, dass im Endkundenbereich (Retail) keine Innovation mehr möglich ist. Kleine Veränderungen ja, aber keine wirklich großen Schritte. Das glaube ich nicht. Es passiert vieles (P2P Banking Plattformen) und durch die soziale Netzwerke (Facebook als Bank oder Versicherung?) werden sich ganz Neue Produktmöglichkeiten ergeben. Weiters fehlen zum Beispiel Versicherungslösungen und langfristige Produkte für die Altersvorsorge mit Inflationsschutz.

 

 

 

[1] Klemperer, Paul, (1995); Competition when Consumers have Switching Costs: An Overview with Application to Industrial Organization, Macroeconomics and International Trade; The Review of Economic Studies Vol. 62. No 4

[2] Nietzsche, Friedrich; Menschliches, Allzumenschliches; S. 21, dtv/de Gruyter 1999

[3]Smith, Adam (1776); An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations

[4] Johnston, Robert (1997); Identifying the critical determinants of service quality in retail banking: importance and effect, International Journal of Bank Marketing 15/4,111–116

[5] Schumpeter, Josef; (1939); Business Cylcles, A Theoretical, Historical and Statistical Analysis of the Capitalist Process - verwendete Version: Konjunkturzyklen, Vandenhoeck & Ruprecht 2008, Seite 93

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